Stolpersteine in Bruchsal
Die Bruchsaler Stolperstein-Initiative

Biografien. Rolf Schmitt, der Initiator der Bruchsaler Stolpersteinverlegungen und Organisator der ersten Verlegungen im Jahr 2015 ging auf Spurensuche.

Diese Beiträge wurde in der Bruchsaler Wochenzeitschrift KURIER vor den Verlegungen veröffentlicht und sind ausführlicher als die Beiträge in der Stolpersteinbroschüre des Jahres 2015.

In Bruchsal werden die ersten Stolpersteine verlegt für jüdische Menschen, die in der NS-Diktatur ermordet wurden / Für den KURIER geht Rolf Schmitt auf Spurensuche

Die ersten Stolpersteine erinnern an Lotte und Walter Jordan

Am 19. April ab 13 Uhr werden nach einem Festakt im Bruchsaler Rathaus fünf Stolpersteine für die Familie Sicher in der Bismarckstraße 18, drei Stolpersteine für die Familie Dreifuß in der Wilderichstraße 23 und zwei Stolpersteine in der Württemberger Straße 34 für die Eheleute Jordan verlegt. Bruchsal erwartet für diesen Tag Angehörige der Ermordeten aus Israel und den USA als Gäste der Stadt. Stolpersteine sind beschriftete Messigplatten, die in den Boden eingelassen werden und an ermordete Menschen während der NS-Diktatur erinnern. DER KURIER berichtete im Vorfeld über das Thema. In einer Serie stellt Rolf Schmitt die Schicksale der oben genannten Menschen vor.

Es gibt nur sehr Weniges, das an Lotte und Walter Jordan erinnert. lm Bruchsaler Stadtarchiv befindet sich lediglich eine blaue Karteikarte in der sogenannten „Judenkartei”, in der Namen, Geburtsdaten und Adresse von Lotte und Walter Jordan genannt sind. Auch Alexia Kira Haus schreibt in ihrem Buch „Bruchsal und der Nationalsozialismus” nicht viel mehr: „Jordan, Jakob Walter, Kaufmann, geb. 25. 9. 1914 in Hochelheim / Wetzlar, verh. mit Lotte Pfeffer aus Bruchsal. Wohnhaft: Bruchsal, Württemberger Straße 34, Schicksal: 1940 wurde das Ehepaar nach Gurs / Südfrankreich deportiert und am 4. 9. 1942 nach Auschwitz gebracht. Dort verloren sich ihre Spuren.” Darüber hinaus befindet sich in diesem Buch noch ein Eintrag zu den Eltern von Lotte, Abraham Pfeffer und Klara Stern. Erst Internetrecherchen sowie der Bericht einer Zeitzeugin vermochten die dürre Biografie der beiden Bruchsaler Mitbürger zu ergänzen und ein detaillierteres Bild von Lotte und Walter Jordan zu zeichnen.

Jacob Walter Jordan aus Hochelheim

Die Hüttenberger Gemeindearchivarin Christiane Schmidt befasst sich seit vielen Jahren mit dem Schicksal der Hüttenberger jüdischen Familien und berichtet in ihrem Buch „Jüdisches Leben in Hüttenberg” auch über den Hochelheimer Jacob Walter Jordan (Rufname Walter). Danach wurde Walter als jüngstes Kind von lgnatz und Franziska Jordan im Jahre 1914 geboren. Walters Vater starb 1918 in Kriegsgefangenschaft, dessen Witwe betrieb das „Gemischtwarengeschäft Ignaz Jordan” weiter, um für den Lebensunterhalt von Walter und die älteren Brüder Hermann und Ludwig zu sorgen. Mutter Franziska verstarb, als Walter 15 Jahre alt war. Sein Beruf wird als „Kaufmann“ angegeben.

Lotte Pfeffer aus Bruchsal

Zu den Eltern von Lotte Pfeffer konnte Alexia Kira Haus umfangreiche Informationen zusammentragen. Danach war Lottes Vater der 1859 in Russland geborene Schneidermeister Abraham Pfeffer. In erster Ehe war er mit Lea Moses verheiratet. Das Ehepaar wohnte in Mingolsheim, wo auch ihre beiden Kinder zur Welt kamen – 1885 Mina und 1888 Max. Mina heiratete den katholisch getauften Karl Krennerich aus lmsweiler, Max arbeitete in der Bruchsaler Kirchgasse 4 als Schneider, heiratete die katholische Johanna Magdalena Löhlein aus Amberg und konvertierte zum Katholizismus. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, Elisabeth und Eva. Nach dem Tod von Lea im Jahre 1910 heiratete Abraham Pfeffer 1912 die 1875 in Malsch bei Karlsruhe geborene Klara Stern. 1914 kam Sohn Walter zur Welt, der sechs Wochen nach der Geburt verstarb. Am 27. Juni 1916 wurde in Bruchsal Tochter Lotte geboren.






Eine Hochzeit in Bruchsal
Das Verlobungsbild von Lotte und Walter Jordan. Das Paar, das in Bruchsal lebte, wurde 1942 in Auschwitz ermordet. Foto: pr

Wie der gebürtige Hochelheimer Walter Jordan vom Hessischen nach Bruchsal gekommen ist, beziehungs-weise, wer die Heirat arrangiert hat ist nicht bekannt. Noch 1938 soll er im hessischen Ebersgöns bei seinem ältesten Bruder Hermann gewohnt haben. Am 30. Mai 1938 heirateten in Bruchsal Lotte Pfeffer und Walter Jordan und wohnten in Lottes Elternhaus in der Württemberger Straße 34.

Verschleppung nach Dachau

Nur wenige Monate nach der Hochzeit, im November 1938, wurde Walter Jordan in das KZ Dachau verschleppt. Zu Fuß, flankiert von Polizeibeamten und unter dem Gejohle von Kindern, mussten die männlichen Bruchsaler Juden zum Bahnhof laufen. Dort angekommen, stießen SA-Leute sie die Treppen hinunter und bespuckten sie. Das Leben in Dachau bestand aus Hunger, Durst, Kälte und Grausamkeiten. Nicht bekannt ist, wann Walter aus Dachau entlassen wurde und zu seiner Frau nach Bruchsal zurückkehren konnte.

Eine Zeitzeugin erinnert sich

Eine in der Obervorstadt aufgewachsene Bruchsalerin erinnert sich noch heute lebhaft an Lotte und Walter Jordan. Lotte sei „so eine liebe Person” gewesen, sagt sie. Einmal soll Walter Jordan sie und zwei andere Kinder gefragt haben, was sie denn gegen ihn hätten. Die Kinder antworteten betroffen, sie dürften mit Juden nicht mehr sprechen, sonst würden sie angezeigt werden. Walter Jordan antwortete: „Ihr armen Kinder.” In der Schule habe sie, die Zeitzeugin, „gelernt”, dass „die Juden stinken.” Zuhause am Mittagstisch, es war etwa im Jahr 1934 oder 1935, sagte sie zu ihren Eltern sie verstehe das nicht, sie kenne doch die Lotte so gut und sei öfters bei ihr um Kakao zu trinken und Kuchen zu essen, aber die Lotte stinke doch überhaupt nicht. Die Eltern schwiegen betreten. Es soll Bewohner der Württemberger Straße gegeben haben, die trotz angedrohter Repressalien den dort wohnenden Juden halfen. So soll eine Frau Haag ab und an in einem irdenen Topf Milch bei den Jordans vor die Tür gestellt haben und der Metzger Kirchgässner machte Päckchen mit Fleisch, die er Lotte und Walter heimlich zusteckte „auch wenn’s nicht koscher ist”, wie er gesagt haben soll.
Deportation und Ermordung








Schoah-Gedenkstätte in Paris. Foto: pr

Die Novemberpogrome von 1938 lösten in Deutschland eine Massenflucht jüdischer Mitbürger aus, Lotte und Walter Jordan blieben jedoch in Bruchsal. Warum ihnen die Flucht nicht gelang, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Am Morgen des 22. Oktober 1940 wurden ca. 90 jüdische Mitbürger aus Bruchsal nach Gurs in Frankreich deportiert. Lotte und Walter waren mit 24 und 26 Jahren die einzigen in der Altersgruppe der jungen Erwachsenen. Beide überlebten die unvorstellbar harten Lebensbedingungen im Internierungslager und wurden im August 1942 von Gurs über das Sammellager Drancy nach Auschwitz verbracht. Das Todesdatum beider wurde auf den 31. August 1942 festgelegt. Als letztes Zeugnis von Lotte und Walter Jordan  existiert ein „Kassenabschluss der Abteilung jüdisches Vermögen vom 31.1.1942 am Finanzamt Bruchsal”. Dort werden als Vermögen des Walter Jordan 2.048,89 Reichsmark genannt. Ob das um 1938/39 von Lotte und Walter Jordan geerbte Bruchsaler „Mietwohngrundstück” in diesem Betrag wertmäßig erfasst ist, ist nicht bekannt. In Paris wird an der Schoah-Gedenkstätte durch die Inschriften „Lotte JORDAN 1916″ und „Walter JORDAN 1914″ der beiden gedacht.

Familienangehörige

Walter Jordans Bruder Hermann wurde zusammen mit dessen Frau Hedwig deportiert. Hermann wurde im Konzentrationslager Majdanek, Hedwig im Vernichtungslager Sobibor ermordet, Ludwig Jordan konnte in die USA fliehen, wo er 1954 verstarb. Es leben noch Nachfahren der Familie Jordan in den USA, die sich sehr darüber freuen, dass nach der Verlegung von Stolpersteinen im August 2014 in Ebersgöns nun auch in Bruchsal Stolpersteine für ihre Angehörigen verlegt werden. Ein Nachfahre will dabei anwesend sein.







Auswanderungsdokument von Max Pfeffer. Foto: pr

Lottes Halbbruder Max Pfeffer emigrierte 1939 nach Brasilien, seine katholische Frau und seine beiden Töchter blieben in Deutschland. Die Ehe wurde 1942 zwangsweise geschieden. 1948 kehrte er nach Deutschland zurück und heiratete seine Frau in Aalen erneut. 1969 verstarb er in Italien. Über den Verbleib von Lottes Halbschwester Mina und deren Ehemann Karl Krennerich gibt es keine Informationen.
© Rolf Schmitt

Erstabdruck in DER KURIER, Ausgabe Bruchsal, 30. Jahrgang, Nr. 10, Donnerstag, 5. März 2015.


Ernst Sicher entkam dem Holocaust durch Flucht nach England

Stolpersteine – Eine Serie von Rolf Schmitt, Teil 2: Fünf Stolpersteine für die Familie Sicher in der Bismarckstraße

Der Initiative des Osnabrückers Benno Aulkemeyer ist es zu verdanken, dass der Bruchsaler Gemeinderat am 25. März 2014 diesen Beschluss fasste: „Der Gemeinderat trägt mit 26 zu 1 Stimme bei zwei Enthaltungen die privaten Initiativen zur Verlegung von „Stolpersteinen“ im öffentlichen Verkehrsraum und damit einer dezentralen Gedenkstätte mit.“

Warum es Benno Aulkemeyer so wichtig war, dass wie in seiner Heimatstadt Osnabrück auch in Bruchsal mittels Stolpersteinen der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird, schildert er selbst so:

„In Bruchsal wohnte in der Nazi-Zeit die Familie Sicher. Das waren Fritz und Recha Sicher, deren Kinder Emmy und Ernst sowie Recha Sichers Schwester Adelheid Heß. Bis auf Ernst kamen alle im Holocaust um. Ernst konnte mit einem Kindertransport aus Deutschland fliehen.
Der Sohn von Ernst Sicher ist der in London geborene und jetzt in Be’er Sheva in Israel lebende Professor Efraim Sicher, der Kollege und Freund meiner Frau ist. Beide forschen über russisch-jüdische Literatur.

Nachdem Efraim vor nunmehr über zwei Jahren auf einer Konferenz in Heidelberg gewesen war – eigentlich wollte er nie in seinem Leben deutschen Boden betreten – haben wir gemeinsam mit meinem damals etwa einjährigen Sohn Heidelberg besichtigt und sind natürlich auch auf Stolpersteine gestoßen. Diese Stolpersteine waren der Anlass, auf Efraims Wunsch hin in die Heimatstadt seiner Familie ins nahe Bruchsal zu fahren. Hier besuchten wir die Stelle, wo einst die Synagoge stand sowie den Ort, an dem Efraims Vorfahren bis 1940 wohnten: die Bismarckstraße 18. Vor diesem Haus machte ich ein Foto von Efraim, wie er meinen kleinen Sohn in seinen Armen wiegt. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich Pate von fünf Stolpersteinen werden möchte: Für die ermordeten Vorfahren von Efraim sowie dessen Vater, der nur durch seine Flucht nach England dem gleichen Schicksal entging.“

Familie Sicher aus München

Die Vorfahren von Fritz Sicher kamen aus dem tschechischen Janovice in der Nähe von Klattau. Er selbst wurde am 12. Juli 1882 in München als Sohn von David Sicher und Emilie Bloch geboren, die in München eine Gerberei betrieben. Fritz Sicher absolvierte eine kaufmännische Lehre, war im 1. Weltkrieg in Mazedonien im Einsatz und nach Kriegsende als Reisender in der Schuhbranche tätig.

Fritz Sichers Brüder Richard und Ernst wurden im Holocaust ermordet, ebenso wie Elsa Pories, die Ehefrau von Ernst. Nur Rudolf, der vierte der Brüder, konnte den Holocaust in einem Versteck in Frankreich überleben.

Emanuel und Elise Heß aus Malsch bei Wiesloch

Im Bruchsaler Adressbuch des Jahres 1888 ist der in Malsch geborene Metzgermeister Emanuel Heß mit der Anschrift Württemberger Straße 6 erfasst. Er war verheiratet mit Elise, geborene Mayer aus Nussloch. Ob die Familie tatsächlich in Bruchsal wohnte lässt sich nicht nachvollziehen, es könnte eine Zweitwohnung gewesen sein, um zu repräsentieren oder hier Geschäfte zu machen. Emanuel und Elise hatten sieben Kinder, alle in Malsch geboren. Gustav und Isaak fielen 1915 als Soldaten im 1. Weltkrieg, Alfred zog nach Speyer, wo sich seine Spuren verloren. Die Töchter erhielten die Namen Recha, Adelheid, Guta und Lilli. Guta heiratete Friedrich Metzger aus Speyer, Nachfahren leben heute in den USA. Recha, Adelheid und Lilli lebten und arbeiteten in Bruchsal.

Lilli Heß und Siegfried Ullmann
Lilli Heß war in Bruchsal Inhaberin eines Geschäftes für Kurz-, Weiß- und Wollwaren. Wohl 1936 heiratete sie den Viehhändler Siegfried Ullmann aus Haigerloch. Das Geschäft in der Friedrichstraße wurde auf behördliche Anordnung im Dezember 1938 eingestellt. Lilli und Siegfried Ullmann wurden am 1. Dezember 1941 von Stuttgart aus ins Ghetto Riga deportiert und nach dem Krieg für tot erklärt.

Als Damenschneiderin in Bruchsal






Kennkarte von Adelheid Heß vom Januar 1939. Kennkarten für Juden waren zusätzlich mit einem großen Buchstaben J versehen. ab 1938 wurden alle jüdischen Frauen und Mädchen gezwungen, zusätzlich den Namen Sara anzunehmen, zusätzlich den Vornamen Israel. Foto: privat


Recha Heß, geboren am 18. Februar 1888 in Malsch, betrieb seit 1907 in Bruchsal eine Damenschneiderei. Ab etwa 1919 war ihre am 17. Oktober 1891 in Malsch geborene Schwester Adelheid ebenfalls in Bruchsal als Damenschneiderin tätig. Am 23. August 1920 heirateten in Bruchsal Fritz Sicher und Recha Heß.

Von der Parterrewohnung in der Schillerstraße in die Bismarckstraße 18, 3. Stock

Recha und Fritz Sicher hatten zwei Kinder. Am 7. Juni 1921 wurde die Tochter Emmy geboren, knapp drei Jahre später folgte am 9. März 1924 Sohn Ernst Joachim, der in der Schillerstraße 1 (heute Franz-Bläsi-Straße) zur Welt kam. Die Kinder hatten bis zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten eine idyllische Kindheit – so erinnert sich Efraim Sicher an Bemerkungen seines Vaters; es war eine glückliche Ehe.





Die Familie Sicher, aufgenommen um 1938 in Bruchsal: von links vorne Fritz und Recha Sicher, dahinter von links Ernst Joachim und Emmy Sicher. Foto: E. Sicher


Fritz Sicher konnte nach der Machtergreifung aufgrund der Reisebeschränkungen für Juden seine Tätigkeit als Reisender nicht mehr ausüben. So versuchte er mit einem kleinen Lebensmittelhandel in der Bismarckstraße 18 seine Familie über Wasser zu halten. Doch bereits im Herbst 1938 musste er als Jude sein Lebensmittelgeschäft aufgeben. Seine Frau Recha wurde gezwungen, ihren Ein-Personen-Betrieb zum 31. Dezember 1938 aufgrund der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben” zu schließen. Jetzt verfügte die Familie über keinerlei Einkünfte mehr.

Deportation nach Gurs, dann nach Auschwitz
Gurs Deportation 01

Deportation der Familie Sicher nach Gurs: links vorne Fritz Sicher, in der Bildmitte Recha Sicher, rechts daneben Adelheid Heß. Aufgenommen in der Prinz-Wilhelm-Straße am 22. Oktober 1940. Das Gebäude im Hintergrund ist der Bürgerhof. Foto: Stadtarchiv Bruchsal

Am 22. Oktober 1940 wurden Recha und Fritz Sicher sowie Adelheid Heß von der Bismarckstraße 18 aus nach Gurs deportiert. Die Tochter Emmy arbeitete zu diesem Zeitpunkt in Karlsruhe und wurde von dort aus nach Gurs verschleppt. Wie ihre Mutter und Tante war auch sie Schneiderin.

Fritz Sicher überlebte das Internierungslager Gurs nicht. Am 7. April 1941 setzten Hunger und katastrophale hygienische Bedingungen seinem Leben ein Ende. Er verstarb an einer eitrigen Rippenfellentzündung im Krankenhaus von Pau.

Die Familie Sicher, aufgenommen 1941 in Gurs: von links Emmy Sicher, Recha Sicher und Adelheid Heß. Foto: E. Sicher

Von links Emmy Sicher, Recha Sicher und Adelheid Heß. Das Foto wurde 1941 im Internierungslager Gurs auf- genommen. Foto: E. Sicher

Adelheid Heß sowie Recha Sicher und deren Tochter Emmy wurden von Gurs aus ins Sammellager Drancy verbracht und mit über 1.000 anderen Inhaftierten am 10. August 1942 in verplombten Waggons ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Hier erfolgte jetzt die „Selektion“. Ein SS-Arzt unterteilte die Angekommenen durch einen bloß flüchtigen Blick und eine kurze Handbewegung nach rechts oder links in „Arbeitsfähige“ und „Arbeitsunfähige“. Es ging ganz schnell, ganz reibungslos, links, rechts. Die als „arbeitsfähig“ eingestuften Personen wurden registriert und in das Lager aufgenommen. Wer als „arbeitsunfähig“ galt, war zum Tode verurteilt und wurde sofort nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet und dann verbrannt. Adelheid, Recha und die 21-jährige Emmy wurden nach dem Krieg für tot erklärt.

Nur der Sohn überlebte den Holocaust

Den Holocaust überlebte nur Ernst Joachim Sicher, der mit einem Kindertransport 1939 aus Deutschland nach England entkam. Erst nach dem Krieg erfuhr er, dass seine Familie ohne Ausnahme ermordet worden war. 1946 heiratete er in England Frances (Fanny) Skolnick. 1994 verstarb er 70-jährig in Israel, wo heute sein Sohn, seine Schwiegertochter, seine Enkel- und Urenkelkinder ihr Zuhause haben.
© Rolf Schmitt

Erstabdruck in DER KURIER, Ausgabe Bruchsal, 30. Jahrgang, Nr. 11, Donnerstag, 12. März 2015.

Erinnerungen von Efraim Sicher an seinen Vater Ernst Joachim Sicher


Der in Israel lebende Sohn von Ernst Joachim Sicher hat die Lebens- und Leidensgeschichte seines Vaters aufgeschrieben. Einiges erschloss sich ihm erst beim Sichten des Nachlasses, darunter die von seinem Vater in einem abgegriffenen Schulheft niedergeschriebenen Erinnerungen an dessen Familie und Geburtsstadt Bruchsal. Wie viele Opfer des Nationalsozialismus sprach Efraim Sichers Vater so gut wie nie über das Geschehene – es war zu schmerzhaft für ihn.

Mein Vater Ernst Joachim Sicher kam am 9. März 1924 in der Bruchsaler Schillerstraße 1 als zweites Kind von Fritz und Recha Sicher zur Welt. Seine Schwester Emmy war da bereits fast drei Jahre alt. Später wohnte die Familie am Bahnhofsplatz 9, dann in der Bahnhofstraße 5 und zuletzt in der Bismarckstraße 18. Mein Vater und seine Schwester hatten bis 1933 eine idyllische Kindheit.

Nazis verprügelten den Großvater
Fritz Sicher (rechts) beim Reinigen einer Einfriedung. Er und andere jüdische Bürger wurden gezwungen Wahlplakate von Zäunen und Häuserwänden zu entfernen.Der Kopfverband ist deutlich zu erkennen. Foto: Stadtarchiv Bruchsal
Fritz Sicher (rechts) beim Reinigen einer Einfriedung. Er und andere jüdische Bürger wurden gezwungen Wahlplakate von Zäunen und Häuserwänden zu entfernen.Der Kopfverband ist deutlich zu erkennen. Foto: Stadtarchiv Bruchsal

Links am Wagen, mit Anzug und Krawatte, Fritz Sicher, bei der Reinigungsaktion der Nazis. Die Aufnahme entstand wahrscheinlich in der Bismarckstraße. Foto: Stadtarchiv Bruchsal

Links am Wagen, mit Anzug und Krawatte, Fritz Sicher, bei der Reinigungsaktion der Nazis. Die Aufnahme entstand vermutlich in der Bismarckstraße. Foto: Stadtarchiv Bruchsal

Hitler wurde am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt und schon vor der Reichstagswahl im März 1933 wurden Juden in Bruchsal drangsaliert oder gar zusammengeschlagen. Mein Vater beschrieb in seinen Memoiren ein schreckliches Erlebnis, das meinem Großvater widerfuhr. Eines Abends kam mein Großvater Fritz mit einer blutenden Platzwunde am Kopf nach Hause. Die Nazis hatten ihn verprügelt und ihn und andere jüdische Bürger gezwungen, Wahlplakate von Zäunen und Häuserwänden zu entfernen. Ein Arzt wurde gerufen und legte einen Verband an. Aus Furcht vor Repressalien oder gar Inhaftierung zeigte mein Großvater die Übeltäter nicht an. Mein Vater beschrieb in seinen Memoiren auch seine ständige Angst, alleine auf die Straße zu gehen.
Obwohl meine Großeltern nicht sehr religiös waren, beachteten sie die jüdischen Speisevorschriften, was jedoch durch schikanöse Gesetze erschwert wurde. So war es nicht mehr möglich, koscheres Fleisch zu kaufen, da für ganz Deutschland ein Schächtverbot erlassen wurde, das das rituelle Schlachten nach dem jüdischen Religionsgesetz untersagte.

Novemberpogrome in Bruchsal
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Bruchsaler Synagoge von SA- und SS-Leuten niedergebrannt. In diesen Tagen waren die Straßen für jüdische Männer nicht sicher. Sie wurden inhaftiert und ins Konzentrationslager Dachau abtransportiert.
Jüdischen Kindern war bereits seit Oktober 1935 verboten, öffentliche Schulen zu besuchen. Mein Vater musste jeden Tag mit dem Zug zu einer jüdischen Schule nach Mannheim fahren. Als er am Morgen des 10. November 1938 bei der Schule ankam stellte er voller Schrecken fest, dass diese nicht mehr existierte. SA-Leute hatten sie zusammen mit der benachbarten Synagoge in die Luft gesprengt. Danach musste mein Vater eine Juden vorbehaltene Berufsschule in Karlsruhe besuchen.
Nach den Novemberpogromen war meinen Großeltern Recha und Fritz endgültig klar, dass sie ihre Heimat verlassen mussten. Sie beschlossen, zunächst ihre Kinder außer Landes zu bringen. Emmy wurde zu Verwandten nach Pilsen geschickt. Aber bereits nach drei Wochen kam sie wieder zurück. Sie war unglücklich und hatte Heimweh. Doch die geplante Emigration der ganzen Familie war zwischenzeitlich nicht mehr möglich. Meine Großeltern hatten zwar Visa beim amerikanischen Konsulat beantragt, aber die USA nahmen keine Flüchtlinge mehr auf.

Flucht mit Kindertransporten
"Unbedenklichkeitsbescheinigung" der Stadtkasse Bruchsal für Ernst Joachim Sicher. Foto: privat
“Unbedenklichkeitsbescheinigung” der Stadtkasse Bruchsal für Ernst Joachim Sicher. Foto: privat

Mit Kindertransporten konnten zwischen Ende 1938 und dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 über 10.000 jüdische Kinder ins Exil nach Großbritannien flüchten. Emmy war 1939 mit 18 Jahren zu alt für den Kindertransport, sie musste in Deutschland bleiben. So konnte nur mein 15-jähriger Vater mit einem Kindertransport entkommen.
Zusammen mit vielen anderen Kindern erreichte er mit dem Schiff die englische Hafenstadt Harwich. Von dort ging es mit dem Zug weiter zur Liverpool Street Station in London, wo Pflegefamilien auf die Emigranten warten sollten. Auf meinen Vater wartete jedoch niemand, woraufhin er zunächst in ein altes Lagerhaus gesperrt wurde. Da mittlerweile Krieg herrschte, konnten Kinder ohne Pflegefamilien nicht mehr zurück geschickt werden.

Ein Flüchtlingskomitee fand für meinen Vater auf dem Gutshof der Familie Russell in Weedon eine Bleibe. Dort musste er für Unterkunft und Verpflegung schwer arbeiten. 1940 beschloss die britische Regierung, alle über 16 Jahre alten männlichen deutschen Emigranten als „Feindstaatenausländer“ festzusetzen. Auch mein Vater wurde auf der Isle of Man interniert. Nur unter der Auflage, wieder als Zwangsarbeiter auf dem Landgut zu arbeiten, wurde er aus dem Internierungslager entlassen.
Glücklicherweise ergab sich für ihn die Möglichkeit, in Leeds die ORT Technical Engineering School zu besuchen, wo er zusammen mit anderen jüdischen Jungen aus Deutschland für einen technischen Beruf ausgebildet wurde.

Deportation nach Gurs – und Auschwitz
Die Eltern meines Vaters, seine Schwester Emmy sowie Tante Adelheid wurden am 22. Oktober 1940 ins Internierungslager Gurs in Frankreich deportiert. Zunächst konnten sich mein Vater in England und seine Familie in Gurs noch Briefe schreiben. So musste er auf diesem Wege erfahren, dass sein Vater aufgrund der katastrophalen Zustände in Gurs am 7. April 1941 im Krankenhaus von Pau verstarb.

Ab August 1942 wurden die Briefe meines Vaters seinen Angehörigen in Gurs nicht mehr ausgehändigt; sie kamen als unzustellbar zurück. Erst nach Ende des 2. Weltkrieges erfuhr er, dass am 10. August 1942 seine Familienangehörigen von Gurs nach Auschwitz deportiert wurden. Seine Mutter Recha, seine Schwester Emmy und seine Tante Adelheid wurden sofort nach der Ankunft in Auschwitz vergast.

Bei der British Army
Links: Ernst Joachim (Ernest) Sicher bei der britischen Armee. Foto: privat
Links: Ernst Joachim (Ernest) Sicher bei der britischen Armee. Foto: privat

Mit 18 Jahren wurde mein Vater Soldat der britischen Armee und diente bei der Jüdischen Brigade in Ägypten. So konnte er einerseits die verhassten Nationalsozialisten bekämpfen und andererseits britischer Staatsbürger werden. Doch er hatte im Holocaust nahezu seine gesamte Familie verloren. Nur wenige entfernte Verwandte blieben am Leben. Onkel Rudolf Sicher überstand die Kriegsjahre in einem Versteck in Frankreich, Onkel Alfred Heß überlebte in der Schweiz.

Besuch im zerstörten Bruchsal

Kurz nach dem Krieg besuchte mein Vater Bruchsal und fand eine zerstörte Stadt vor. In der Bismarckstraße sprach ihn eine Bruchsalerin an, die seine Familie vor deren Deportation ab und zu unterstützte. Sie wollte ihm ein Gemälde aus dem Besitz seiner Eltern mitgeben, doch mein Vater lehnte ab, was er einige Zeit bereute. Später wurde ihm jedoch klar, dass er so viel verloren hatte – für all seine Schmerzen könne ihn ein Bild nicht entschädigen.

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Hochzeitsfoto von Fanny (Frances) Skolnick und Ernest Sicher. Foto: privat

Im Juni 1946 heiratete mein Vater Fanny (Frances) Skolnick und begann ein neues Leben als freier Bürger in Großbritannien.
Auswanderung nach Israel

Um in der Nähe ihrer Enkelkinder zu sein, wanderten meine Eltern im Jahre 1983 nach Israel aus, wo ich als deren einziges Kind mit meiner Frau Rakhel seit 1980 lebe.
Meine Mutter verstarb bereits 1988, mein Vater verstarb 1994 im Alter von 70 Jahren an Herzversagen. Doch die Geschichte der Familie Sicher geht in Israel weiter. Hier wuchsen die Enkelkinder von Ernest und Fanny Sicher als freie Bürger in ihrem eigenen Land auf. Mittlerweile wachsen die Ururenkelkinder von Recha und Fritz Sicher in Israel heran.

© Rolf Schmitt
Erstabdruck in DER KURIER, Ausgabe Bruchsal, 30. Jahrgang, Nr. 13, Donnerstag, 26. März 2015.

„Zu den Akten, die auszuscheiden sind“

Am 14. Oktober 1955 vermerkte ein Landesbediensteter des Regierungspräsidiums Nordbaden unter dem Aktenzeichen „Nr. II 2 a 6“ in der Besoldungsakte von „Dreifuß Julius, Prof. a. D.“, dem ehemaligen Lehrer am Bruchsaler humanistischen Gymnasium (heute Schönborngymnasium):
I. Der Obengenannte wurde am 1.9.1942 nach dem Osten evakuiert. Versorgungsbezüge werden von hier nicht bezahlt.
II. Karteikarte zur Abtl. A. [Archiv – Anm. d. Verf.]
III. Z. d. A. die auszuscheiden sind.

Mit diesen dürren Worten zogen Bürokraten 1955 einen Schlussstrich unter zwei Menschenleben, die ihr Ende im Holocaust gefunden hatten.
Julius Dreifuß aus Lörrach und Mathilde Nachmann aus Rastatt
Julius Dreifuß wurde am 16. September 1876 in Lörrach als Sohn des Breisacher Religionslehrers Jacob Dreifuß und der aus Worms stammenden Augusta Friedmann geboren. In Lörrach besuchte er das Gymnasium und bestand die Abiturprüfung mit der Note „sehr gut“.
Wie der frühere Ordnungsamtsleiter Hubert Ihle bei der heutigen Auswertung der Akten des Generallandesarchives in Karlsruhe weiter herausfand, studierte Dreifuß in Heidelberg klassische Philologie, war ab April 1900 als Lehramtspraktikant am dortigen Gymnasium beschäftigt und ab 1901 in Rastatt. Im Juni 1905 erhielt er seine erste planmäßige Anstellung als Professor am Bruchsaler Gymnasium. Er unterrichtete Griechisch, Latein und Deutsch. Als „gründlicher Kenner der Sprache versteht er den Unterricht anregend zu gestalten“, so ein Akteneintrag. Dreifuß wird in den Akten aber auch als „eine sehr in sich selbst zurückziehende Gelehrtennatur“ beschrieben, „so dass man fast wünschen möchte, er käme mehr in die Öffentlichkeit und  nähme etwas an dem gesellschaftlichen Leben der Stadt teil“. Möglicherweise trugen seine Krankheiten und sein starkes Hinken zu seiner Zurückhaltung und seinem von manchen als schroff wahrgenommenen Wesen bei.

2. von rechts, stehend: Julius Dreifuß, Mathilde Dreifuß ist die Dame rechts vom Bild ander Wand. Foto: B. Dallas

Zweiter von rechts, stehend: Julius Dreifuß, Mathilde Dreifuß ist die Dame rechts unter dem eckigen Bild an der Wand. Foto: B. Dallas

Am 12. April 1918 heirateten Julius Dreifuß und die am 26. Mai 1887 in Rastatt geborene Mathilde Nachmann. Ob Julius Dreifuß während seiner Tätigkeit am Rastatter Gymnasium Mathilde kennen lernte, oder ob die Ehe durch damals übliche Heiratsvermittlung zustande kam, ist nicht bekannt. Mathilde war das dritte von vier Kindern von Leopold Nachmann und Bella Rosenfeld. Die Rastatter jüdische Familie Nachmann war in ihrem Heimatort gut bekannt und angesehen.

Mit der Heirat gab Julius Dreifuß seine Bleibe in der Schlossstraße 9 in Bruchsal auf und bezog zusammen mit seiner Frau eine Wohnung in der Wilderichstraße 23. Einige Jahre später, am 21. Januar 1921, wurde Mathilde Dreifuß von Gustav Leopold entbunden. Er sollte das einzige Kind der Eheleute bleiben.

Schloss-Gymnasium

Kollegium des humanistischen Gymnasiums. Vierte Person von rechts, in der hinteren Reihe: Julius Dreifuß. Um 1930. Foto: Stadtarchiv Bruchsal
Julius Dreifuß war politisch engagiert. Er war Mitglied der Eisernen Front, einer Kampfvereinigung von Sozialdemokraten und Gewerkschaften, die das Ziel hatte, die Weimarer Republik und die Demokratie gegen Angriffe von Nationalsozialisten, Kommunisten sowie der konservativen „Adelskamarilla“ zu verteidigen.

Ein Besuch bei der Tante in Bruchsal

Eine heute in Israel lebende Nichte von Mathilde Dreifuß erzählte kürzlich von einem Besuch bei ihrer Tante in Bruchsal während der Schulferien in den frühen 1930er Jahren. Nach über 80 Jahren erinnert sie sich heute noch an eine Schar Buben, die vor dem Wohnhaus der Familie Dreifuß in der Wilderichstraße aufmarschierten und Julius Dreifuß wegen seiner Gehbehinderung verbal schmähten und verhöhnten. Mathilde Dreifuß trat daraufhin vors Haus und verjagte die Schreihälse, die gröhlend im nahen Schlossgarten verschwanden.

Versetzung in den Ruhestand
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt und mit der – allerdings nicht mehr freien – Reichstagswahl im März 1933 übernahmen die Nationalsozialisten die Macht. Bereits am 7. April 1933 wurde das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verkündet, mit dem jüdische Mitarbeiter aus dem Staatsdienst entfernt werden sollten. In Bruchsal betraf dies neben dem Gymnasiallehrer Prof. Dr. Ludwig Marx, dem Volksschullehrer Wilhelm Prager und der Klavierlehrerin Berta Kahn auch Prof. Julius Dreifuß. Dessen Personalakte berichtet lapidar: „7.4.1933 mit sof. Wirkung vom Dienst beurlaubt“. Am 1. Mai 1933 stellte Dreifuß ein Ersuchen um Zurruhesetzung aus gesundheitlichen Gründen. Das notwendige Gutachten wurde von seinem Hausarzt erstellt, dem bekannten Bruchsaler Arzt Dr. Schmich. Am 6. Juni 1933 ging Prof. Dreifuß in den Ruhestand. Mitte März 1934 gab die Familie ihre Bruchsaler Wohnung auf und zog nach Frankfurt.

Familienmitglieder in Frankfurt
In Frankfurt hatte Mathildes jüngerer Bruder Fritz Nachmann seit 1918 eine gute Anstellung bei der Frankfurter Zeitung als hoch geschätzter Schriftleiter. Aufgrund der politischen Situation wurde er von seinem Arbeitgeber „in Verfolg des Schriftleitergesetzes“ entlassen und schied zum Juli 1937 aus dem Unternehmen aus, „da er sich im Ausland eine neue Existenz gründen will“, so der Arbeitgeber im Arbeitszeugnis. Im Anschreiben zum Zeugnis wurde, nicht üblich bei der Kündigung eines
jüdischen Mitarbeiters, betont: „Wir möchten nicht verfehlen, Ihnen bei dieser Gelegenheit für die treuen Dienste […] unseren herzlichen Dank auszusprechen“.
Die Entlassung traf die ganze Familie sehr hart, hatte Fritz Nachmann doch große soziale und finanzielle Verpflichtungen. Mittlerweile wohnten viele seiner Verwandten in Frankfurt. Mit seinem Gehalt sorgte er für seine Frau, die drei Kinder, teilweise für Mutter, Schwiegermutter und für weitere arbeitslose Verwandte, wie auch die Familie Dreifuß. Noch 1937 verließen Fritz und Hilda Nachmann sowie deren Kinder Ruth, Lothar und Greta ihre Heimat in Richtung Amerika, andere Angehörige flohen nach Frankreich oder Palästina.

Keine Flucht und Tod
Julius und Mathilde Dreifuß emigrierten nicht aus Deutschland. Vielleicht bekam Julius Dreifuß wegen seiner   Gesundheitsprobleme kein Visum. Sohn Gustav Leopold entkam 1939 mit einem Kindertransport nach England. Julius und Mathilde Dreifuß versuchten wie viele andere Juden auch in der Anonymität der Großstadt Frankfurt unterzutauchen. Sie entkamen ihren Häschern jedoch nicht. Im September 1942 wurden sie ins Ghetto von Theresienstadt deportiert. Dort verstarb Julius Dreifuß am 16. November 1942. Als Todesursachen wurden „Darmkatarrh und Altersschwäche“ diagnostiziert.

„Nachmann, das ist nicht arisch“
Knapp einen Monat nach dem Tod von Julius Dreifuß schrieb die Badische Landeshauptkasse an das Finanz- und Wirtschaftsministerium Karlsruhe: „Der Obengenannte ist [am 1. September 1942] nach dem Osten evakuiert worden. Dreifuss ist mit einer arischen Frau verheiratet. Aus der Ehe ist ein Sohn (Mischling) hervorgegangen. Wenn Dreifuss die Pension entzogen wird, dann müsste die Frau […] eine Witwenpension bekommen.“ Auf diesem Schreiben befinden sich zwei handschriftliche Anmerkungen: „geb. [geborene – Anm. d. Verf.] Nachmann d. i. [das ist – Anm. d. Verf.] nicht arisch“ und, dies bekräftigend: „Die Frau … geborene Nachmann ist wohl kaum arisch, sie ist mit dem Mann zusammen […] evakuiert worden“. So war sicher gestellt, dass keine Witwenpension an eine nichtarische Person bezahlt wird.
Tod in Auschwitz

Mathilde Dreifuß wurde Ende Januar 1943 im Güterwagen ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. An der „Judenrampe“ wurde sie aussortiert und musste von hier direkt den Weg in die Gaskammer antreten. Ihre sterblichen Überreste wurden zur Verbrennung in einen Ofen der Krematorien gebracht. Die Knochen wurden zermahlen und die Asche wie die der anderen Opfer auf den umliegenden Feldern verstreut.
© Rolf Schmitt

Erstabdruck in DER KURIER, Ausgabe Bruchsal, 30. Jahrgang, Nr. 15, Donnerstag, 9. April 2015.

Auf der Suche nach einem – zunächst – Unbekannten

„Und nun zu meinem Onkel Julius [Dreifuß – Anm. d. Verf.] und Tante Mathilde. In den Ferien [in den
1930er Jahren – Anm. d. Verf.] war ich einmal bei ihnen in Bruchsal. Unser Kontakt war nicht sehr eng. Ich weiß aber noch, dass Tante Mathilde und Onkel Julius einen Sohn hatten, der später nach England geschickt wurde und dort bei einem Priester aufgewachsen ist.“ So schrieb Edith Ramon, eine während des Holocaust nach Israel geflohene Rastatterin, in einem Brief an Beteiligte der Stolpersteinaktion.

Das Bruchsaler Ehepaar Julius und Mathilde Dreifuß, beide 1942/43 im Holocaust umgekommen, hatten einen Sohn? Nirgends gab es bislang Hinweise darauf – weder in der Karteikartensammlung des Bruchsaler Standesbeamten Dreher noch in den einschlägigen Büchern zum Nazi-Terror in Bruchsal. Trugbild einer 94-Jährigen? Nach 80 Jahren können Erinnerungen verblassen, manches, an das man sich erinnert, hat so nie stattgefunden. Trotzdem. Was, wenn Ediths Erinnerung doch nicht trog? Sollte man dem Hinweis nicht nachgehen? Aber wenn, wie weiter vorgehen?

Ausriss Brief Yehudith
Auszug aus dem Schreiben von Edith Ramon. Foto: privat

Edith Ramon kennt den Namen ihres Cousins nicht mehr, doch dem Hinweis auf die Verschickung nach England nachzugehen erschien lohnend, legt dieser doch nahe, dass der Cousin vielleicht mit einem Kindertransport entkommen konnte. Dies würde bedeuten, dass er 1938/39 nicht älter als 18 Jahre alt sein konnte, durften doch Kinder nur bis zu diesem Alter auf den Kindertransport gehen. Die Hochzeit der Eltern 1918 wiederum lässt darauf schließen, dass der Junge nach diesem Zeitpunkt zur Welt kam. Da Edith dem Jungen in Bruchsal begegnete, muss er vor dem Umzug der Familie im Jahre 1934 nach Frankfurt geboren worden sein.

Das Jüdische Museum in Berlin kann nicht weiter helfen
Eine Anfrage beim Jüdischen Museum in Berlin ergab, dass es im dortigen Archiv Unterlagen zu einigen Kindern mit dem Nachnamen Dreifuß gibt, die in den genannten Zeitintervall gepasst hätten, aber Geburtsort oder die Angabe zu den Eltern schlossen jedes dieser Kinder als zur Bruchsaler Dreifuß-Familie gehörend aus. Was tun? Die Suche aufgegeben, den Hinweis von Edith Ramon endgültig als Trugbild abtun?

Ein erster Hinweis vom Archiv des Leo-Baeck-Instituts
Schließlich konnte der Archivar des Leo-Baeck-Instituts in New York, Michael Simonson, einen wertvollen Hinweis geben. So befindet sich im Archiv des LBI ein Dossier zu der jüdischen Rastatter Familie Nachmann, also zu den Eltern und weiteren Angehörigen von Mathilde Dreifuß. In einem unveröffentlichten Manuskript in dieser Akte mit dem Titel „The old order changeth. Memoirs of persecution and emigration“ (Die alte Ordnung wandelt sich. Erinnerungen an Verfolgung und Emigration) sind die Lebensgeschichten von Angehörigen der Familie Nachmann aufgezeichnet, die dem Holocaust entrinnen konnten.

Ein Satz von Greta Nachmann aus diesem Manuskript elektrisierte: „Back in Frankfurt the arrangements were made to pack and leave, and to say our good-byes to our friends and relatives there – Onkel Alfred, Tante Johanna, Tante Mathilde, Onkel Julius, and cousin Leopold. Of the last four only Leopold survived the war, having escaped to England“. (Zurück in Frankfurt trafen wir Vorkehrungen zum Packen und zur Abreise. Unseren Freunden und Verwandten wollten wir Lebewohl sagen – Onkel Alfred, Tante Johanna, Tante Mathilde, Onkel Julius und Cousin Leopold. Von den vier letzteren überlebte nur Leopold den Krieg, er konnte nach England entkommen).
„Tante Mathilde, Onkel Julius und Cousin Leopold“, schrieb die Autorin, „nur Cousin Leopold überlebte den Krieg, er konnte nach England entkommen“. Deckte sich dies nicht mit den Erinnerungen von Edith Ramon? Konnte „Cousin Leopold“ tatsächlich der gesuchte Sohn von Julius und Mathilde Dreifuß sein?

Zurück in die Region – ins Generallandesarchiv in Karlsruhe
Ein Gespräch mit einem Bruchsaler Historiker brachte einen weiteren wertvollen Tipp. Wenn Julius Dreifuß Lehrer war, könnte es vielleicht im Generallandesarchiv in Karlsruhe noch eine Personalakte von ihm geben.

Tatsächlich. Die Dienstakte existiert und darin ist ein Kind verzeichnet: „Gustav Leopold 21.01.1921 in Karlsruhe“. Bei dem von Greta Nachmann erwähnten Leopold handelt es sich wirklich um den Sohn von Mathilde und Julius Dreifuß. Die 94-jährige Edith Ramon erinnerte sich korrekt an ein über 80 Jahre zurückliegendes Ereignis.
Mit den nun vorliegenden Daten war eine substantiellere Recherche möglich und im Internet konnte ein weiteres Dokument gefunden werden. Auf Seite 4966 der digital verfügbaren London Gazette vom 14. September 1948 ist unter vielen anderen auch dieser Eintrag zu finden: „Dreifuss, Gustav Leopold (known as Leo Dreifuss), Germany, Student, 43, Linden Avenue, Orrell, Near Wigan, Lancashire, 28 July, 1948“. Diese amtliche Veröffentlichung informierte darüber, dass Leopold Dreifuß den Treueeid (Oath of llegiance) „to His Majesty, King George the Sixth, His Heirs and Succeccossors“ abgelegt hatte. Ab diesem Zeitpunkt war er britischer Staatsbürger.

Die Tochter von Leo Rosenberg hilft weiter
Die Londoner Ahnenforscherin Jeanette Rosenberg recherchierte vor Ort weiter und wurde fündig. Sie fand heraus, dass Leo bereits vor einigen Jahren verstarb und auch die Namen seiner englischen Eltern konnte sie ermitteln. Dies waren Lottie Fearnley und Fred Lea, die bis Mitte 1931 Mitglieder einer strenggläubigen baptistischen Gemeinde waren – daher vielleicht Ediths Äußerung, Leo sei „bei einem Priester aufgewachsen“. Später konvertierten die Adoptiveltern zur anglikanischen Kirche.

Gustav Leopold Dreifuß, 1928. Foto: B. Dallas

Gustav Leopold Dreifuß, bekleidet in der damals modernen alpen-ländischen Trachtenmode. Aufnahme 1928. Foto: B. Dallas

Über Leos Leben in England weiß man nur wenig. Es ist nicht bekannt, was er studierte. Bis zu seiner Zurruhesetzung war er am Wigan & Leigh College als Hochschuldozent für Mathematik beschäftigt. Leo war nie verheiratet, zu seinen in Israel und den USA lebenden Verwandten hatte er keinen Kontakt.
Frühere Mitbürger aus Wigan erinnern sich an Leo Dreifuß

Eileen Bithell und Eileen Walsh, die in den 1990er Jahren in Wigan die gemeinnützige Einrichtung „BETA –Basic Education & Training for Adults“ aufbauten, erinnern sich noch heute an ihre Zusammenarbeit mit Leo. Auch nach seiner Pensionierung besuchte er mehrmals jährlich das BETA-Ausbildungs- und Trainingscenter für Erwachsene, das ihn sehr beeindruckte. Die beiden Eileens nannte der zu der Zeit in den 70ern stehende Leo verschmitzt seine „two lovely girls“. Jedes Jahr schickte Leo eine Weihnachtskarte an die „zwei reizenden Mädchen“, doch im Dezember 1999 erhielten die beiden Frauen nicht wie in den Jahren zuvor Weihnachtsgrüße. Da sie sehr mit dem Aufbau des weltweit ersten gemeinnützigen Internetcafés befasst waren, realisierten sie erst Monate später, dass Leo mittlerweile verstorben war.

Todesanzeige für Leo Dreifuss. Foto: privat

Todesanzeige für Gustav Leopold Dreifuss. Foto: privat

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Gustav Leopold Dreifuß in einem Altenpflegeheim in Orrell und verstarb am 14. September 1999 im Alter von 78 Jahren. Beigesetzt wurde er im Grab seiner englischen Eltern auf dem St. Luke-Friedhof in Orrell, der englischen Gemeinde, in der er nach seiner Flucht aus Deutschland über 60 Jahre lebte.
Nach dem Tode wieder vereint
Am 19. April 2015 werden sowohl für Julius und Mathilde Dreifuß als auch für deren Sohn Gustav Leopold Dreifuß Stolpersteine verlegt. Der ausführende Künstler Gunter Demnig schrieb dazu: „Mein Projekt ist grundsätzlich so angelegt, dass Leo unbedingt dazu gehört. Die Familie soll wieder zusammen sein“.
Grabstein von Fred und Lottie Lea sowie Leo Dreifuss. Foto: privat
Grabstein für Leo Dreifuß und dessen englische Pflegeeltern Fred und Lottie Lea auf dem Friedhof der St. Lukas-Gemeinde in Orrell. Foto: privat
© Rolf Schmitt

Erstabdruck in DER KURIER, Ausgabe Bruchsal, 30. Jahrgang, Nr. 16, Donnerstag, 16. April 2015.